Lauschbar 49 31. Oktober 2010

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The National: High Violet (4AD/Beggars/Indigo) 7.5.2010
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Das 5. Album der seit gut 10 Jahren bestehenden Band aus den USA passt perfekt zur melancholischen Herbststimmung. Stilistisch irgendwo zwischen den Tindersticks und Interpol einzuordnen, scheint beim ersten Höreindruck die angenehme und warme Bariton-Stimme von Sänger Matt Berninger den Songs den Stempel aufzudrücken. Tatsächlich würde sie aber aufgrund ihrer geringen Spannbreite eher für eine gewisse Eintönigkeit sorgen, wenn da nicht das filigrane musikalische Gerüst drumherum wäre, was sich einem aber erst nach mehrfachem und aufmerksamen Anhören richtig erschließt: Die Songs folgen nicht dem klassischen Strophe-Refrain-Schema und besitzen fast durchweg einen subtilen Spannungsaufbau, der vor allem durch das geniale Schlagzeugspiel von Drummer Bryan Devendorf getragen wird. Flirrende Gitarren sorgen für die Harmonien, während Klavier und Streicher die Kompositionen dezent anreichern.
Zur Faszination des Albums tragen auch die verschlüsselten Texte bei. Diese leben von rätselhaften Bildern wie "I was carried to Ohio in a swarm of bees" ("Bloodbuzz Ohio"). Damit vermeidet die Band Banalitäten und eröffnet dem Hörer eigenen Interpretationsspielraum, so dass er am Ende das Gefühl hat zu wissen, was denn gemeint ist.
  ↑  The Black Keys: Brothers (V2/Cooperative) 21.5.2010
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Seit ca. 5 Jahren verfolge ich mit Interesse den Output dieses, seit 2001 existierenden Duos aus Ohio, bestehend aus dem Gitarristen und Sänger Dan Auerbach sowie dem Drummer Patrick Carney. Zelebrierten sie auf ihren ersten 4 Alben (bis "Magic Potion" 2006) noch rauen, ungeschliffenen Garagen-Blues-Rock, so öffneten sie sich mit dem Vorgängeralbum "Attack & Release" 2008, produziert von Danger Mouse (u.a Gnarls Barkley, Broken Bells), für ein breiteres Spektrum, insbesondere Soul und Psychedelica. Die Kompositionen sind nun ausgefeilter und die Arrangements mit Bass, Orgel, Synthesizer und allerlei Effektgeräten üppiger. Dieser Trend wird auf dem nun vorliegenden 6. Album fortgesetzt und (fast) bis zur Perfektion getrieben. Das mit 15 Songs und 55 Minuten prall gefüllte Album hat keine richtige Schwachstelle, dafür gleich eine ganze Reihe richtig genialer Tracks, die eine lässige und schwül-warme Stimmung verbreiten.
  ↑  Kommando Sonne-Nmilch: Pfingsten (Major) 28.5.2010
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Kommando Sonne-Nmilch wurde 1998 von Jens Rachut, einem Urgestein der Hamburger Punk-Szene (u.a. Angeschissen, Dackelblut, Oma Hans), zunächst als Studio- und Nebenprojekt gegründet. Inzwischen ist es seine Hauptband und "Pfingsten" das 5. Album, auf dem es ihm wunderbar gelingt, die Rotzigkeit des Punkrock mit künstlerischem Anspruch zu verbinden. Das Album beginnt und endet mit 2 eher lustigen Stücken im Dada-Stil. Dazwischen geht es aber ernsthafter zur Sache, denn es werden Themen wie Umweltzerstörung, Missbrauch in der Kirche und Tod behandelt. Die Texte sind nicht immer einfach zu entschlüsseln - was zum wiederholten Anhören und Nachdenken einlädt – und warten mit einigen feinen Wortspielen auf. Stilistisch ist das Album recht abwechslungsreich: schnellere Punkrock-Nummern, zu denen man gut pogen kann, wechseln sich mit ruhigeren, fast Balladen-haften Blues- und Reggae-Stücken ab. Sehr schön auch der abwechselnde Gesang von Rachut mit seiner markanten Stimme und der Sängerin Yvon Jansen.
Beim ersten Hören ein etwas sperriges Album, das den geneigten Hörer von Mal zu Mal aber mehr in den Bann zieht ...
  ↑  The Flamings Lips & Co.: The Dark Side Of The Moon (Warner) 27.8.2010
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"The Dark Side Of The Moon" von Pink Floyd aus dem Jahre 1973 gehört ja zu den Klassikern der Rockgeschichte, und es gehört schon eine Portion Mut und/oder Frechheit dazu, dieses Meisterwerk komplett in einer eigenen Version neu einzuspielen. Hartgesottene Pink Floyd-Fans werden das gar als Blasphemie ansehen. Ich, als ebenfalls bekennender Pink Floyd-Fan, bin da aber aufgeschlossen, immerhin haben bereits vor 7 Jahren die Easy Star All-Stars mit dem Quasi-Komplett-Cover "Dub Side Of The Moon" bewiesen, dass das Konzept funktionieren kann. Während die Easy Star All-Stars das Album im Dub-Reggae-Stil coverten, übertragen die Flaming Lips mit Gastmusikern und -sängerInnen (u.a. Henry Rollins und Peaches) das doch recht polierte Original in einen rauheren Garagen/Psychedelic Rock-Kontext. Die Songreihenfolge, die Texte und die Melodik wurden zwar beibehalten, durch andere Effekte und Instrumentierung werden jedoch zum Teil ganz andere Akzente gesetzt, die zu interessanten und größtenteils gelungenen und eigenständigen Neuinterpretationen führen, wobei ingesamt die düster-nachdenkliche Atmosphäre des Originals erhalten bleibt. Einzig in "The Great Gig In The Sky" übertreibt es Peaches mit ihrer verfremdeten, schrillen Stimme etwas ...
  ↑  You Say Party! We Say Die!: Xxxx (Paper Bag/Universal) 18.6.2010
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Das dritte Album der Ende 2003 gegründeten kanadischen Band erscheint in Deutschland mitten in einer Neufindungsphase der Band, denn während der Tour zum Album (in Kanada bereits Ende 2009 veröffentlicht) verstarb im April dieses Jahres Drummer Devon Clifford plötzlich an einer Hirnblutung. Nach reiflicher Überlegung entschied man sich, unter dem verkürzten Bandnamen You Say Party weiter zu machen.
Ein Ende der Band wäre auch schade gewesen, angesichts des großen Potentials, das sie auf dem vorliegenden Album offenbart. Im Vergleich zum rauheren Dance Punk ihrer ersten beiden Alben gibt sich die Band nun introvertierter und auch etwas dunkler, ohne freilich groß an Tanzbarkeit zu verlieren. Gleich mehrere Stücke des Albums haben dank toller Melodien, griffiger Hooklines und hibbeliger Beats das Zeug zu Indie-Dancefloorhits. Großartig auch eine gereifte Sängerin Becky Ninkovic, die mit ihrer ausdrucksstarken Stimme nicht unwesentlich zum Esprit der Platte beiträgt und zu Karen O von den Yeah Yeah Yeahs aufrückt.
  ↑  The Roots: How I Get Over (Def Jam) 2.7.2010
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Das sympathisch Rap-Projekt aus Philadelphia um Rapper Black Thought und Drummer ?uestlove hat in seiner inzwischen gut 20 jährigen Geschichte schon mit einigen Musikstilen geflirtet, vom Jazz bis zum Progressive Rock. Auf dem vorliegenden 9. Studioalbum verzichten sie auf größere Experimente und bieten ein angenehm unaufgeregtes und gefühlvolles HipHop-Werk an. Etwas ungewöhnlich sind ein paar Kollaborationen mit Künstlern aus dem SingerSongwriter/Indie-Bereich, z.B. Monsters Of Folk und Joanna Newsom. Diese kommen aber gut und damit könnten die Roots neben den üblichen HipHop- und Soul-Fans auch solche aus dem Indie-Sektor ansprechen.
  ↑  Nas & Damian: Distant Relatives (Def Jam/Universal) 14.5.2010
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Das Album thematisiert Afrika - seine Geschichte, Probleme und auch Hoffnungen. Produziert und eingespielt wurde es vom Rapper Nas und Damian Marley, Sohn von Bob Marley. Ihre Zusammenarbeit begann vor 5 Jahren mit einem Beitrag von Nas zu Damian Marley’s letztem Album "Welcome to Jamrock".
Wie von der stilistischen Herkunft der beiden Protagonisten her zu erwarten war, pendelt das Album denn auch zwischen Reggae, Dancehall und HipHop hin- und her, wobei das auch innerhalb der einzelnen Songs geschieht, denn die beiden spielen sich die Bälle gegenseitig zu und präsentieren sich als ein gut harmonierendes Team. Gelegentlich werden auch Afrobeats bzw. afrikanische Folklore eingestreut. Entsprechend der Thematik sind die Songs zum größeren Teil auch eher nachdenklich gehalten und weniger auf den Dancefloor orientiert.
Nach der wirklich großartigen ersten Albumhälfte fehlen in der zweiten dann aber etwas die Spannungsmomente ...
  ↑  Molecular Structures: Memories Long Lost (Basswerk / Groove Attack) 13.8.2010
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Hinter dem Projekt verbirgt sich der erst 19-jährige Filip Dragovic, geboren in Düsseldorf, groß geworden in Belgrad, und inzwischen in England Philosophie studierend. Dank seines musikbegeisterten Vaters erhielt er als Jugendlicher Musikunterricht an verschiedenen Instrumenten, u.a. Klavier und Jazzschlagzeug. Diese breite Ausbildung macht sich auf seinem gelungenem Debüt-Album bezahlt: die übliche Drum’n’Bass-Stilistik erweitert er geschickt um atmosphärische Soundscapes und deepe Dubstep-Ästhetik. Die insgesamt sehr warme und gefühlvolle Produktion hat sowohl Momente zum träumerischen Abdriften als auch zum Austoben auf dem Tanzboden ... eine feine Platte, mit der er für mich sogar dem zeitgleich erschienenen neuen Album "Outside the Box" von Dubstep-Pionier Skream den Rang abläuft, der mir darauf zu sehr mit dem Mainstream flirtet ...
  ↑  Shed: The Traveller (OstGut Ton) 27.8.2010
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Unter dem Pseudonym Shed lebt der 35-jährige Rene Pawlowitz sein Faible für Album-orientierte elektronische Musik aus, während er als STP und The Panamax Project die DJs mit funktionalen Techno-Tracks für den Dancefloor bedient. 2008 hatte er mit "Shedding The Past" sein Shed-Debüt veröffentlicht. Auf seinem 2. Album arbeitet er verschiedene Stile elektronischer Club-Musik ab, von Detroit Techno über Rave bis zu Dubstep, inklusive ambienter Flächen zwischendurch. Die Stücke sind dabei weniger für den Dancefloor gedacht (s.o.) und für das Genre mit um die 4 Minuten recht kurz gehalten. Das ist durchaus spannend, auch wenn mir ein paar Tracks etwas unausgereift bzw. zu minimal sind.
  ↑  Von Spar: Foreigner (Italic/Kompakt) 28.5.2010
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Eine positive Überraschung erlebte ich beim Anhören dieses Albums, des dritten der seit 2003 bestehenden und mir bislang unbekannten Kölner Formation: vom Post Punk ihrer Anfangszeit ist hier nichts mehr zu hören, vielmehr bietet das Album eine exzellente Zeitreise zurück in die 70er Jahre, zu Space und Kraut Rock. Zitiert werden bekannte Größen von damals wie Tangerine Dream, Klaus Schulze, Jean Michel Jarre, Kraftwerk und Pink Floyd. Diese Zitate werden aber geschickt in ein modernes, satt produziertes Soundbild eingebettet und mit Elementen aus Post Rock, Funk und Electro verbunden, so dass ein ganz eigenständiges, spannendes und zeitloses Werk entsteht.
Einige Stücke besitzen einen hohen Groove-Faktor, so dass man dazu durchaus auch tanzen kann.
  ↑  The Books: The Way Out (Temporary Residence) 23.7.2010
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Das 4. Album des New Yorker Duos, das seit 2000 existiert und mir bislang unbekannt war, ist eines der außergewöhnlichsten Alben, das mir seit langem untergekommen ist. Das hängt ganz wesentlich mit der Art und Weise zusammen, wie sie ihre Musik kreieren: der eine, Paul de Jong, sammelt Tondokumente, deren Urheberrechte abgelaufen sind: Field Recordings, Meditationskassetten, Mitschnitte aus Rundfunk/Fernsehen, Werbespots und sonstiges obskures Zeug. Das wird dann gesampelt, zerstückelt und neu zusammen gesetzt. Der andere, der Multiinstrumentalist Nick Zammuto, fügt dann Instrumentspuren und Rhythmus hinzu, und bastelt so ein Lied, oder besser Stück, daraus, in dem die Samples mal mehr, mal weniger dominieren, und wo man nie genau weiß, was nun gesampelt oder selber eingespielt ist. Das Ergebnis sind wunderbar eigentümliche, höchst abwechslungsreiche und amüsante Stücke. In der ersten Albumhälfte überwiegen dabei die eher avantgardistischen, abgefahreren Stücke, in der zweiten die eher relaxten, Electro-Akustik-Folk Stücke, die noch am ehesten als Lied bezeichnet werden können.
  ↑  Laurie Anderson: Homeland (Nonesuch / Warner) 2.7.2010
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Anfang der 80er wurde die Performance- und Avantgarde-Künstlerin aus New York mit ihrem einzigen Hit "O Superman" kurzzeitig einer breiteren Masse bekannt. Hierzulande ist sie heutzutage eher unbekannt, dabei hat sie in den späten 70ern und Anfang der 80er während ihrer Performances Bahnbrechendes geleistet, was inzwischen von vielen Künstlern genutzt wird: elektronische Verfremdung von Stimme und Instrumenten, Video-Installationen, Spoken Words etc.
Auf ihrem aktuellen Album (dem ersten Studio-Album seit 9 Jahren) wird die heute 63-jährige Künstlerin von asiatischen Oberton-Sängern sowie von Szene-Musikern aus New York unterstützt. Bis auf das einzig schnellere, fast schon tanzbare Stück "Only An Expert" (zu dem Kieran Hebden von Four Tet die Beats beisteuert) sind die restlichen Tracks eher ruhig gehalten. Die einfach gehaltenen Kompositionen basieren auf ihrem Violin-Spiel und/oder ambienten Keyboardflächen und lassen so den nötigen Raum für ihre sonore und hypnotische Stimme, mit der sie, mal sprechend, mal singend, ironische und pointenreiche Geschichten erzählt, die den aktuellen Zustand der USA reflektieren. Im zentralen, 11-minütigen "Another Day in America" schlüpft sie dazu in die Rolle des fiktiven Reporters Fenway Bergamot (s.a. Cover), wobei sie einen Stimmverzerrer verwendet, mit dem sie tatsächlich wie ein Mann klingt.