Lauschbar 19 08. Dezember 2002

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Madrugada: Grit (Virgin) 25.10.2002
Mit ihrem 99er Debüt "Industrial Silence" (Lauschbar 8) hat sich diese norwegische Band, die hierzulande noch eher ein Geheimtip, in ihrer Heimat aber eine Größe ist, in mein Herz gespielt, denn sie bot einen genialen, vielseitigen Western-Rock mit psychedelischen Einflüssen und einer unter die Haut gehenden Bariton-Stimme, die klang, als hätten sich Jim Morrison, Elvis und Nick Cave in einer Person vereint. Nun liegt mit dem 3. Album ein neues Meisterwerk vor, das ebenfalls die oben genannten Ingredenzien aufweist, aber auch eine Weiterentwicklung der Band aufzeigt: war das 1. Album – auch vom Cover her – das blaue (melancholische), das 2. das schwarze (düstere) Album, so ist das neue das rote: "Vieles ging in die Brüche oder stand stark unter Strom, sowohl privat als auch innerhalb der Band. Resultat war ein direkterer Zugang: mehr Drive und rauhes Seventies-, Early-Eighties-Feeling.
"Grit’ ist eine in Feuer gebadete Psychose." (So Sänger Hoyem.)
  ↑  Masha Qrella: Luck (Indigo/Hausmusik) 16.9.2002
Masha Qrella, die in den beiden Berliner Instrumental-Bands Mina und Contriva Keybord bzw. Gitarre spielt, hat ganz im Alleingang ihr beachtliches Solo-Debüt eingespielt, auf dem sie nun auch ihre schöne, warme Stimme einsetzen kann. Die Songs kommen alle sehr ruhig und unspektakulär daher und strahlen einen spröden Charme sowie eine herbstliche Stimmung aus.
  ↑  Add N To (X): Loud Like Nature (Mute) 21.10.2002
Das seit 1994 bestehende Synthie-Freak-Trio aus UK entwickelt sich ständig weiter: nach Post-Rock-Einflüssen der Anfangsjahre und dem Abdriften in poppigere Gefilde kommen sie auf ihrem 5.Album nun electro-punkig daher, wodurch es sehr druckvoll wirkt und, insbesondere in der ersten Hälfte, schön schräg klingt.
  ↑  Nachzehrer: Teen Taken From Tent By Aliens (Nanopop/NovaMedia) 14.10.2002
Man darf sich von dem etwas seltsamen Bandnamen nicht verschrecken lassen, denn hier liegt ein ganz hervorragendes Debüt-Album einer süddeutschen Band vor, die bereits Ende der 80er mit einem 4-Track-Promotape für Aufsehen sorgte, aber damals noch keinen Plattendeal bekam. Ein Nachzehrer ist übrigens ein altdeutscher Begriff aus dem 16. Jahrhundert für Verstorbene, die Lebende in ihr Grab ziehen und verzehren. Grundlage für diesen Mythos waren laute Schmatzgeräusche aus den Gräbern frisch Verstorbener, die man sich damals nicht wissenschaftlich erklären konnte. Wer daraus auf ein Dark-Wave- oder Gothic-Album schliesst, liegt aber falsch, denn hier handelt es sich um feinste Synthi-Wave-Pop Mugge im Stil der 80er (Fad Gadget, Human League), welche dank verwendeter moderner elektronischer Stilmittel trotz Retro-Flair aber keineswegs altmodisch klingt.
  ↑  XPQ-21: Chi (Dying Culture/EFA) 22.8.2002
Das dritte Album des deutschen Electro-Duos ist ein echtes Highlight unter den doch recht einförmigen Veröffentlichungen der letzten Zeit in diesem Genre. Zwar gibt es auch die typischen technoid treibenden Beats, die hier jedoch ständig gebrochen und gewechselt werden und mit vielschichtigen elektronischen Sounds sowie markantem Gesang angereichert werden.
  ↑  Amon Tobin: Out From Out Where (Ninja Tune) 14.10.2002
Der in England lebende gebürtige Brazilianer gehört neben Aphex Twin und Squarepusher zu den herausragenden Vertretern des Drill’n’Bass, einer experimentell-spastischen Variante des Drum’n’Bass. Auf seinem 4. Album fusioniert er in gewohnt-gekonnter Weise kompositorische Ideen des HipHop und Jazz mit hektischen Jungle-Rhythmen.
  ↑  Chris Joss: Dr. Rhythm (Irma) 9.7.2002
Nach vielen Jahren des Experimentierens und der Mitarbeit in erfolglosen Bandprojekten kam der gebürtige Franzose eher durch Zufall zu seinem ersten Plattendeal. Der Titel des vorliegenden 2. Albums zeigt die Richtung an: die Tracks grooven locker zwischen Electro-Funk und Acid-Jazz hin und her und locken auf den Dancefloor...
  ↑  User’s Atmosphere: Dreamsharing (Wohnton/Novamedia) 5.8.2002
Der Titel des Debüts der beiden Mainzer (hauptberuflichen Fernseh-Musiker) Sergio Roth & Jürgen Genzler ist Programm: die Songs sollen zum Träumen anregen und den Hörer für eine Stunde aus der Hektik des Alltags entführen.
Wunderbar entspanntes und entspannendes Chillout-Album mit athmosphärischen Ambient-Klängen.
  ↑  Lemon Jelly: Lost Horizons (XL/Connected) 21.10.2002
Manchmal wird Neugier doch durch wunderbare Entdeckungen belohnt, wie im Fall dieser CD, auf die ich nur durch eine kleine Rezension aufmerksam wurde. Die Platte eröffnet beim ersten und wiederholten Anhören eine faszinierende, schillernde und einzigartige Klangwelt, an der man sich nicht satt hören kann.
Nach einer 2000er CD mit den ersten 3 EPs, ist "Lost Horizons" das erste richtige Album des britischen Duos. Die beiden sind aber beileibe keine Newcomer, sondern durchaus erfahrene Hasen: Nick Franglen ist Studiomusiker und Musikproduzent, der schon mit Primal Scream, Björk und sogar den Spice Girls zusammengearbeitet hat, und Fred Deakin ist DJ und Designer/Illustrator, der auch das Artwork für diese CD entworfen hat, das ihr Bestreben nach Originalität sehr gut unterstreicht. Die Musik lässt sich nur schwer einordnen, am ehesten noch unter Downbeats, die aber dermaßen fantasievoll und auch witzig-skuril arrangiert sind, dass jeder Vergleich fehlschlagen muss ...
  ↑  Yann Tiersen: C’etait ici (Labels/Virgin) 27.9.2002
Wer den wunderbaren Film "Die fabelhafte Welt der Amelie" gesehen hat, erinnert sich vielleicht auch an die Musik, die eben vom Franzosen Yann Tiersen komponiert wurde, und mit der er in Deutschland bekannt wurde. In Frankreich ist er aber schon ein Star, der bereits auf 7 Alben zurückblicken kann, und zu den Vorreitern der Nouvelle Scene Francaise gehört, die sich durch stilistische Vielfalt und Facettenreichtum auszeichnet.
So sind auch die zurückhaltend mit Klavier, Akkordeon und Gitarre instrumentierten Stücke des Soundtracks längst nicht alles, was Tiersen im Reportoire hat. So bietet die vorliegende, klanglich hervorragende Live-Doppel-CD, die eine Art von Best-Of darstellt, ein breites Spektrum von pompöser Klassik, rumpeligen Walzern mit Orchesterbegleitung und Klavierstücken bis hin zu melodischem Pop und gefühlvollen Chansons.
  ↑  Ras: Rhythmic Altered State (Sonar) 13.5.2009
Der gebürtige Frankfurter, studierte Musiker und Kosmopolit Robert Galic aka Ras verschmilzt mit Gastmusikern auf seinem ersten Longplayer auf organische und gekonnte Weise afrikanische und lateinamerikanische Beats, HipHop und Reggae mit westlichen Clubvibes zu rhythmisch komplexen, aber leicht zugänglichen und gut tanzbaren Songs.
  ↑  Patrice: How Do You Call It? (Yo Mama) 21.10.2002
Das zweite Album des Wahlhamburgers sierraleonischer Abstammung kann man im Prinzip in die Schublade Reggae stecken, wobei Patrice durch Blues- und Songwriter-Einflüsse a la Ben Harper diesem Genre neue, interessante Aspekte verleiht.
Eine Liebeserklärung an die Musik, die Menschen und das Leben.